Von Zeitgeist und Zuckerwatte
Volksfeste in DeutschlandVon Zeitgeist und Zuckerwatte
In vielen Dörfern und Städten Deutschlands finden jedes Jahr Volksfeste statt: Sie heißen Jahrmarkt, Rummel oder Kirmes – und manche gibt es schon seit Jahrhunderten. Auch die Schausteller betreiben ihre Fahrgeschäfte oft schon seit vielen Generationen.
Doch was nach Tradition aussieht, braucht viel Innovation – und ein gutes Gespür für den Zeitgeist. Wie erfinden Schausteller sich und ihre Fahrgeschäfte neu, ohne ihr Erbe aufzugeben?
Zwischen Familienerbe und Modernität: ein Rundgang übers Volksfest.
Vom Schießstand bis zum Autoscooter: fünf Schausteller – und ihre Fahrgeschäfte – im Porträt.
Josef Diebold, Kinderkarussell
Mit Hand, Herz und Verstand
Es ist eine kleine heile Welt, die sich da auf und ab dreht, und man sieht: In allem steckt viel Herzblut, aber auch Schweiß. Man plant, investiert, macht Gewinn und Verluste.
Nach einigen Runden bremst der Orientexpress ab und hält an. Und das ist dann der schönste Moment für Josef Diebold: wenn die Kinder gar nicht mehr aussteigen und noch einmal fahren möchten. Denn dann weiß er: „Wir haben alles richtig gemacht.“
Doch Technik, Geschwindigkeit und Design allein garantieren noch keinen Erfolg, sagt Josef Diebold, denn „da fehlt noch die Seele, da fehlt noch das Herz. Und das ist die Person an der Kasse, die das Mikro in der Hand hat und die Animation macht. Und das ist es, was den Schaustellerberuf ausmacht.“
Heute will Josef Diebold gar kein anderes Fahrgeschäft als ein Kinderkarussell mehr haben. Zu ihm kommen jedes Jahr dieselben Familien – und auch wenn die Kinder dem Karussell längst entwachsen sind, schauen die Eltern noch bei Josef Diebold vorbei: „Man spricht miteinander, man freut sich, man sieht sich.“
Und auch Schausteller sehen es gerne, wenn ihre Kinder sich für diesen Beruf begeistern und später ein eigenes Fahrgeschäft betreiben möchten. „Die Flamme, nicht die Asche weitergeben ist die Parole“, sagt Josef Diebold. Schausteller ist man aus Leidenschaft. „Es ist nicht immer einfach, aber es ist halt einfach schön.“
Zu Hause unterwegs
Zu Hause unterwegs
Mit den Eltern ziehen auch die Kinder von Jahrmarkt zu Jahrmarkt mit. In jedem Ort gehen sie auf eine andere Schule. Dort und auf dem Volksfestplatz finden sie Freunde – und oft auch die große Liebe.
Angelika Weiß, Schießstand
Schuss – und Treffer!
Privates und Geschäftliches – das lässt sich im Schaustellergewerbe kaum trennen. „Wir sind als Kinder damit aufgewachsen, für uns ist das etwas ganz Normales“, sagt Angelika Weiß.
Röhrchen, Büchsen und Sterne – bei ihr gibt es für Anfänger und Profis unterschiedliche Zielobjekte. Das ist über die Jahrzehnte ziemlich gleich geblieben.
Verändert haben sich auch die Gewinne. Zwar gibt es immer noch Schraubenzieher, Lollis, Plüschtiere. Doch gerade die Kinder möchten, auch an den anderen Ständen, am liebsten das mit nach Hause nehmen, was gerade angesagt ist – in diesem Jahr vor allem Fidget Spinner oder die „Minions“-Figuren aus dem Kinofilm Ich – einfach unverbesserlich.
Aber was wäre ein Schießstand ohne Rosen?
Feste und Fristen
Der Veranstalter eines Volksfests, meist die jeweiligen Städte und Gemeinden, wählt dann die Attraktionen für sein Volksfest aus: Welches Fahrgeschäft wird angeboten? Wie groß ist es? Wie familienfreundlich? Wie umweltfreundlich? Wie modern? Wo haben die Schausteller ihren festen Wohnsitz? Diese Fragen spielen bei der Auswahl eine Rolle.
Ein Platz auf einem Volksfest ist begehrt: In Augsburg etwa gibt es rund dreimal mehr Bewerber als teilnehmen können.
Bruno Noli, Autoscooter
Ein Leben lang Schausteller
Nach der Ausbildung kehrte Bruno Noli zurück und kaufte mit 19 Jahren sein erstes eigenes Fahrgeschäft. Heute betreibt er zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter einen Autoscooter und einen Süßwarenstand.
Bruno Nolis Frau ist Quereinsteigerin, sie stammt also nicht aus einer Schaustellerfamilie. Sich in das Leben unterwegs einzufinden, fiel ihr wohl nicht schwer. Denn so außergewöhnlich sei das Schaustellerleben gar nicht, sagt Bruno Noli. „Wir haben auch ein geregeltes Leben, nur dass es im Sommer auf dem Volksfestplatz stattfindet.“
Früher war der Autoscooter der Treffpunkt, an dem sich Jugendliche zum Rendezvous verabredet haben. Wie auch Bruno Noli damals. Sie kamen aber auch, um dort die neueste Musik zu hören. Die hat inzwischen jeder auf seinem Handy – und einen festen Treffpunkt braucht es nicht mehr, weil sich alle auf Facebook und per WhatsApp verabreden. Heute fahren bei Bruno Noli vor allem Eltern mit ihren Kindern.
Er möchte den Autoscooter bald ganz seiner Tochter übergeben. Den Volksfestplatz ganz zu verlassen, kann er sich trotzdem nicht vorstellen. Ein älterer Schaustellerkollege sagte ihm einmal: „Was soll ich daheim, da kenne ich niemanden, im Sommer auf dem Volksfestplatz sind meine Freunde. Wenn ich daheim bin, habe ich nach zwei Wochen dreimal den Rasen gemäht.“ Schausteller bleibt man wohl sein Leben lang. „Ich glaube, es bleibt einem nichts Anderes übrig als auf dem Volksfestplatz zu bleiben“, sagt Bruno Noli.
Innovation ist Tradition
Innovation ist Tradition
Um für die Besucher und die Städte, in denen sie Halt machen, attraktiv zu bleiben, bemalen sie die Süßwarenstände neu, tauschen die Beleuchtung beim Karussell aus, kaufen neue Wagen für den Autoscooter, bieten bei den Losbuden Gewinne an, die im Trend liegen.
Auf den Volksfestplätzen ist immer die neueste Technik im Einsatz und muss sich bei Kälte, Hitze, Feuchtigkeit und hoher Auslastung beweisen. Wenn sich eine Erfindung auf dem Volksfestplatz bewährt, dann kann sie auch in der Industrie oder im Haushalt bestehen – wie die LED-Lampen, die schon vor rund zwanzig Jahren zum ersten Mal bei Fahrgeschäften getestet wurden.
Michael und Christina Baier, Musikexpress
Im Betrieb
Dort gibt es heute nicht mehr so viele Volksfeste wie früher. Deshalb muss Michael Baier auch auf Jahrmärkte fahren, die mehrere hundert Kilometer entfernt liegen.
Wenn sie unterwegs sind, brauchen sie insgesamt sechs Fahrzeuge: drei Schwertransporter für den Musikexpress und drei Wohnwagen für seine Familie und zurzeit vier Mitarbeiter.
Ein Fahrgeschäft ist eigentlich ein kleines Unternehmen. Arbeitnehmerschutz, Sicherheitsvorgaben des TÜVs und eine neue DIN-Norm für sogenannte Fliegende Bauten: Die Anforderungen an Schausteller werden strenger. So müssen einzelne Bauteile bestimmter Karussells und Achterbahnen heute für ein höheres Körpergewicht der Fahrgäste ausgelegt werden als früher.
Links von den Gondeln, fast ein bisschen versteckt, liegt die Schaltzentrale des Musikexpress. Hier wird kassiert, gesteuert und rekommandiert: „Ja, wie schaut’s denn aus, wollt ihr noch mal? – Das ist mir zu leise!“ So animiert ein Rekommandeur – oder eine Rekommandeurin – die Besucher, einzusteigen und unterhält sie während der Fahrt.
Gleichzeitig haben Michael und Christina Baier die Fahrgäste im Blick, wählen die Musik aus und bedienen die Lichtanlage. Nach zwei Stunden lösen sie sich gegenseitig ab.
Novredana, Wahrsagerin
Über Tod spricht man nicht
„Ich habe schon immer die Gabe gehabt, schon als Kind – und zu meinem Mann habe ich immer gesagt, später übe ich das mal als Beruf aus.“ Und Novredana wollte unbedingt einen Wagen auf den Volksfesten haben: „Ich hätte auch ein Büro haben können, aber ich war ehrgeizig und wollte jeden Menschen haben, nicht nur einen bestimmten Typ Mensch“. Zur ihr kommen Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Geschäftsleute und Pflegekräfte aller Altersgruppen.
Über zwei Stufen gelangen ihre Besucher ins Wageninnere. Dort sitzt an einem Tisch, in einem großen Bürostuhl, Novredana. Wer zu ihr kommt, muss erst mal still sein: „Ich erzähle und dann können sie fragen.“ Es sind die großen Themen, die den Leuten auf dem Herzen liegen: Liebe, Beruf und Gesundheit. Nur über den Tod darf man nicht sprechen.
Sie weiß, dass nicht alle ihrer Kunden an Wahrsagerei glauben. Doch das macht ihr nichts aus. „Ich kann ja auch nicht sagen, dass ich immer recht habe.“ Sowieso habe sich ihr Beruf verändert: Viele Besucher wünschen sich von ihr eher einen Rat als eine wirkliche Vorhersage.
Sich selbst kann Novredana übrigens keine Karten legen.
Zimtstern statt Zuckerwatte
Zimtstern statt Zuckerwatte
Der Wohnwagen und die Fahrgeschäfte werden winterfest gemacht und eingelagert. Im Winter haben viele Schausteller in ihrem Heimatort einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt. Angelika Weiß verkauft in Nürnberg Krippenfiguren und Holzschnitzereien aus Südtirol und Josef Diebold baut in Augsburg ein nostalgisches Kinderkarussell auf.
Nach der Winterpause geht es Mitte Januar wieder los: Die Fahrgeschäfte werden gereinigt, gewartet und modernisiert – und Ostern beginnt die neue Volksfestsaison.
Impressum
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Ute Elena Hamm und Jakob Rondthaler
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