Cover
Staatliche Theaterfinanzierung – Voraussetzung künstlerischer Freiheit oder eine Beschränkung derselben?Irgendwer wird schon bezahlen – Die szenischen Künste und die Politik
Text: Álvaro Vicente
Videos: Javier de Pascual
Einleitung
Das Private ist politisch
Wir blicken auf eine intensive Wahlperiode zurück. Auf die Parlamentswahlen vom 28. April 2019 folgte der Super-Wahlsonntag 26. Mai, an dem die kommunalen, regionalen und europäischen Volksvertretungen neu gewählt wurden. Daran, dass ein Regierungswechsel die Hoffnungen und Bemühungen vieler Leute zunichtemacht, sind wir bereits gewöhnt. Und das betrifft alle Bereiche, von der Politik bis zur Kultur. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass die neuen Verantwortlichen für Kultur in der Madrider Stadtverwaltung die künstlerische Leitung der Naves Matadero womöglich in andere Hände legen und ich mein Stipendium nicht wie vorgesehen abschließen kann.
Die szenischen Künste in Zahlen
Die szenischen Künst in Zahlen IDie „Belegschaft“
Es gibt rund 687.000 Arbeitsplätze im Kulturbereich, dies entspricht 3,6 Prozent der arbeitenden Bevölkerung (rund 417.000 Männer und 270.000 Frauen), von denen 73.200 als „kreative Künstler und Interpreten“ gelten (hier liegt der Anteil zwischen Männern und Frauen bei jeweils etwa 50 Prozent). Innerhalb der Europäischen Union nimmt Spanien den achten Rang ein, was den prozentualen Anteil der Beschäftigten im Kultursektor betrifft, hinter Schweden (4,8 Prozent), Großbritannien (4,7 Prozent), den Niederlanden (4,5 Prozent), Belgien (4,3 Prozent), Deutschland (4,0 Prozent), der Tschechischen Republik (3,9 Prozent) und Italien (3,6 Prozent), hinter Spanien folgen Frankreich (3,5 Prozent) und Polen (3,5 Prozent). Von den 159.800 Personen, die laut dem Statistischen Jahrbuch in den Bereichen „Design, Kunst, Übersetzung und Aufführung“ beschäftigt sind, arbeiten 59,4 Prozent ohne Anstellung, 26,9 Prozent haben einen unbefristeten und 13,8 Prozent haben einen befristeten Arbeitsvertrag. Die Lohnbruttokosten je Mitarbeiter und Jahr betrugen demnach in diesem Bereich im Jahr 2017 29.256 Euro, der höchste Wert seit dem Jahr 2013.
Im Studienjahr 2017/18 wurden 400.000 Studierende in den offiziellen künstlerischen Studiengängen immatrikuliert, die Mehrzahl (82,5 Prozent) in Musik, 9,4 Prozent in Tanz und 0,6 Prozent in Schauspiel, ein Anteil, der seit 2002 praktisch unverändert ist. Es wäre irreführend, würde man sich mit Blick auf die szenischen Künste allein auf diese Zahlen stützen, um die wirkliche Zahl der Studierenden einzuschätzen. Es gibt keine genauen Zahlen, aber allein in Madrid gibt es hunderte – wenn nicht tausende – Theater-Studenten an Privatschulen, die im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in großer Zahl entstanden sind. Um den Überblick über die Bildungslandschaft abzuschließen, sei angemerkt, dass sich im vergangenen Semester 34.000 Personen für ein humanwissenschaftliches Abitur, 27.200 in kulturnahen Ausbildungsgängen an Berufsschulen und 190.500 in kulturnahen Universitätsstudiengängen eingeschrieben haben.
Die szenischen Künste in Zahlen IIÖffentliche Ausgaben und Zuschauer
Was die weiteren öffentlichen Kulturinvestitionen angeht, so haben die Autonomen Gemeinschaften im Haushaltsjahr 2016 insgesamt 1,054 Milliarden Euro ausgegeben, eine Summe, die im Jahr 2008 fast doppelt so hoch war, was eine Vorstellung von den krisenbedingten Kürzungen in den Etats für Kultur vermittelt. Im Bereich der darstellenden Künste ging es konkret um 251 Millionen Euro. Zu den regional (in der Zuständigkeit der Autonomien) bewirtschafteten Theatern gehören zum Beispiel die Teatros del Canal in Madrid mit einem Budget von 3,7 Millionen Euro in der laufenden Spielzeit oder das Teatro Central in Sevilla mit knapp einer Million Etat.
Aber die größten Garanten für den szenischen Spielbetrieb in Spanien sind langfristig in ökonomischer Hinsicht die Stadtverwaltungen, die – auch das sei angemerkt – 3,083 Milliarden Euro im Jahr 2016 beigesteuert haben, 25 Prozent weniger als 2010. Nicht zufällig sind die kommunalen Institutionen die Träger der Mehrzahl der über ganz Spanien verstreuten Bühnen. Fast alle Städte mit mehr als 30.000 Einwohnern verfügen über ein Stadttheater. Die Stadtverwaltung von Madrid verfügt als Hauptstadt und neuralgisches Zentrum für Bühnenproduktionen und Aufführungen über das Teatro Español, das Teatro Circo Price, das Teatro Fernán Gómez Centro Cultural de la Villa, Naves Matadero Centro Internacional de Artes Vivas sowie das Centro Cultural Conde Duque, darüber hinaus über ein Netz von Kulturzentren in den Stadtbezirken. Schon bald (voraussichtlich im Jahr 2020) soll eine neue Spielstätte hinzukommen, das Centro Cultural Daoiz y Velarde.
Wir schließen dieses Kapitel mit einigen allgemeinen Angaben. Dem letzten Jahrbuch der SGAE (Allgemeine Gesellschaft der Autoren und Verleger) zufolge, das 2018 mit den Zahlen aus dem Jahr 2017 veröffentlicht wurde, erreichten Bühnenaufführungen in Spanien etwa 13 Millionen Zuschauer (eine im Grunde seit 2012 gleichbleibende Zahl) mit Gesamteinnahmen in Höhe von 232 Millionen Euro. Die Kultur als Wirtschaftsfaktor trug im Jahr 2016 3,3 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei (die im Zusammenhang mit geistigem Eigentum erfolgten wirtschaftlichen Aktivitäten sind hierin enthalten). Innerhalb dieses Kultur-BIPs entfallen 9,4 Prozent unmittelbar auf die Bühnenkunst, rund 2,6 Milliarden Euro.
Politischer und gesetzlicher Rahmen
Zum Anfang Zum AnfangReferenzmodelle in Europa
Das Vereinigte Königreich – ein Vorbild?
Sammy Metcalfe verkörpert 50 Prozent der baskisch-englischen Kompanie Sleepwalk Collective, die sich seit einem Jahrzehnt in der zeitgenössischen Theaterarbeit zwischen Spanien und Großbritannien engagiert (sie sind die Initiatoren des Festivals Intacto in Vitoria, dessen neunte Auflage in diesem Jahr just aus Mangel an öffentlichen Zuschüssen nicht stattfinden kann). Sammy erzählt uns, dass im Gegensatz dazu, was hier stattfindet, „die Kulturinstitutionen in England viel weniger politisiert sind, die Organismen, die öffentliches Geld an kulturelle Projekte vergeben, sind völlig unabhängig von politischen Strukturen. Es kommt dort nicht vor, dass sich, wie in Spanien, bei einem Regierungswechsel in der Kulturpolitik alles verändert.“
Für Cesc Casadesús, früher künstlerischer Leiter des Mercat de les Flors in Barcelona und derzeit Direktor des Festivals GREC, dem zentralen Sommertreffen der Bühnenkunst in der katalanischen Hauptstadt, „gibt es Dinge, die man vom englischen Modell kopieren sollte, etwa die Transparenz oder die Gestaltung der öffentlichen Ausschreibungen, aber das ist kompliziert. Denn dort hat – im Gegensatz zu hier oder in Frankreich – der private Sektor viel Macht. Die öffentliche Hand bestimmt dort nicht so sehr, was im Bereich der szenischen Künste passiert.“
Die Dramatikerin, Regisseurin und Journalistin Pilar G. Almansa hat in London gelebt und gearbeitet, sodass sie die Situation dort aus erster Hand kennt: „Im Verständnis für Kultur und auch als Land hat man in Großbritannien eine klare Vorstellung von der Rolle der Kultur: das Förden von Gemeinschaft, von Gemeinschaften, nicht nur innerhalb des eigenen Landes, sondern auch mit Blick auf die Länder ringsum, und dadurch sind die Fördermechanismen für Künstler viel einfacher. In jedem Fall meine ich, wir sollten über Folgendes nachdenken: Im Schnitt liegt das Alter der Besucher von Bühnenkunstwerken bei 55 Jahren, das ist nicht nur in Spanien so, sondern auch in anderen Ländern. Man wird die Politiken in all diesen Ländern überdenken müssen, denn das Bildungswesen ist in Großbritannien, Spanien, Schweden oder Iran jeweils anders, aber dennoch ist das Alter der Theaterbesucher überall gleich.“
Andere Beispiele – Italien, Belgien oder Portugal
Das gegensätzliche Extrem bildet Portugal, wo die Szene beim Ausbruch der letzten Krise, die das Land vielleicht stärker erschüttert hat als andere Länder unserer Umgebung, von Seiten des Staates komplett sich selbst überlassen wurde. Und dennoch zeigt sich die Theaterszene in Portugal heute auf der Höhe der belgischen, der französischen, der deutschen und der englischen. Und sie hat das mit Hilfe zeitgenössischer Produktionen erreicht, nicht mit den Klassikern. Der Choreograph und Regisseur Rui Horta meint: „In Portugal haben wir eine sehr starke freie Szene, die aber vom Staat schlecht behandelt wird. Doch die Krise hat uns außerordentlich widerstandsfähig gemacht, und wir haben uns gegenseitig sehr unterstützt. Nie haben wir aufgehört zu experimentieren. Es gibt eine ungemein lebendige portugiesische Tanzszene, und ein so experimentierfreudiger Mann wie Tiago Rodrigues leitet jetzt, mit 38 Jahren, das Nationaltheater in Lissabon. Und weil wir wissen, was arm sein heißt, wissen wir auch etwas über Solidarität. Derzeit etwa unterstützen wir die Griechen sehr, denn im Vergleich mit ihnen sind wir die Reichen.“
Der nationale Kontext
Zum AnfangMutige Entscheidungen, die die Dinge verändern können.
Der Grund für diese Rückkehr hatte – wenn auch indirekt – mit einer politischen Entscheidung zu tun. Mit der Berufung von Jaime de los Santos zum Kulturdezernenten der Regionalregierung in Madrid war ein radikaler Wechsel im Management der Teatros del Canal verbunden, die von da an von einer Doppelspitze mit Àlex Rigola und Natalia Álvarez Simó geleitet wurden. Rigola legte sein Amt nieder, durchaus aus politischen Motiven im Zusammenhang mit den Polizeieinsätzen vom 1. Oktober 2017 in Katalonien, sodass Álvarez Simó als alleinige Führungsfigur auf dem Flaggschiff der Madrider Kultur verblieb. „Was das öffentlich finanzierte Theater angeht, müssen ein paar Zielvorstellungen verändert werden“, sagt uns die Direktorin der Teatros del Canal, „damit für die Zuschauer das Recht auf Kultur garantiert bleibt, ihre Wahlfreiheit und Kritikfähigkeit. Es geht nicht darum, an der Theaterkasse Geld zu verdienen. Hier liegt die wahre Freiheit: nicht ausschließlich nach quantitativen Kriterien bewertet zu werden. Aber um diese Freiheit ausleben zu können, brauchst du einen vernünftigen Etat. Wenn ich Freiheit spüre und ein angemessenes Budget habe, kann ich das an meine Künstler weitergeben, damit sie sich frei fühlen, um sich auszuprobieren, kreativ zu sein und sich zu entwickeln. Weder die Institution noch die Künstler sollen Vorträge halten, sie sollen Fragen aufwerfen, die Probleme unserer heutigen Gesellschaft ansprechen, immer im Kontakt mit dem Moment, den wir durchleben. Das zeitgenössische Theater nennt man so, weil es über die gegenwärtige Gesellschaft reflektiert, so wie es Museen oder Filmemacher tun.“
Ja, aber nein
Am Ende, so sagt es Paz Santa Cecilia, sind es die Personen, die die Dinge am Laufen halten, nicht die Institutionen, auch wenn uns kein Ausweg bleibt als uns mit ihnen zu arrangieren. Ja, die Teatros del Canal haben Madrid wieder sichtbarer gemacht. Was aber, wenn die Verantwortlichkeiten für Kultur wechseln und damit die aktuelle Führungsriege, die über eine Direktberufung eingesetzt wurde? Es ist richtig, dass die Madrider Stadtverwaltung hilfreich agiert hat, aber es scheint unzureichend zu sein. Das allgemeine Empfinden ist, dass die letzte Stadverwaltung in kulturpolitischen Fragen ein fragwürdiges Erbe hinterlassen hat, auch wenn es – endlich! - einen Kulturbeirat gibt, eine Maßnahme, die auf lange Sicht „ein gut bestelltes Feld hinterlässt – egal, wer gerade regiert –, damit der gesamte Kulturbetrieb mit seinen verschiedenen Disziplinen und Szenen über einen klaren Kommunikationskanal verfügt, um sich fortwährend mit der Stadtverwaltung verständigen zu können “, so sagt es Getsemaní de San Marcos, die scheidende Direktorin für Kulturprogramme bei der Madrider Stadtverwaltung.
Es ist richtig, dass das INAEM seine Selbsterneuerung in Gang gesetzt hat, denn es ist ein langsamer Elefant (das gibt seine Direktorin, Amaya de Miguel, unumwunden zu). Es will auch bei der Förderung von Tournee-Programmen für Madrider Produktionen aktiv werden. Aber das stößt an arbeitsrechtliche Schranken. Auch das Platea-Programm soll erneuert werden, aber wer will sagen, ob es dann dem entspricht, was Carlos Gil, der Doyen der Theaterkritik, kürzlich festhielt: „Das Produktionsoligopol will keinerlei Veränderung.“ Und er sagte weiter: „In der Mehrzahl der Theater in Spanien ist es geradezu verdächtig, wie einheitlich die Spielpläne sind.“ Auch ist zwischen Stadtverwaltung und dem Unternehmen Adif vereinbart worden, einen speziellen Spielort für Tanz im Stadtteil Delicias in der Nähe des Eisenbahn-Museums zu schaffen, aber wann wird das geschehen? Wieder steht die Frage im Raum, was passiert, wenn die Verantwortlichen wechseln oder, wie vor drei Jahren geschehen, die Parteien zu keiner Einigung finden und die Wahlen wiederholt werden müssen. Bleibt dann alles ein weiteres Jahr in der Schwebe?
Die Eigenverantwortung der Kulturschaffenden
Ja, es nimmt kein Ende, wenn wir Szeneaktiven über Kultur und Theater sprechen, aber „wir sollten uns auch selbst befragen“, sagt die Dramatikerin und Regisseurin Lola Blasco, „und einen Blick darauf werfen, warum wir scheitern und nicht mehr Leute erreichen, denn es ist so, wir erreichen sie nicht. Es hat so eine Haltung unter uns gegeben, irgendwie progre (progressiv), die viele Leute zu Ignoranten erklärt hat, die ihrerseits uns für elitistisch angesehen und uns den Rücken zugewandt haben.“
Ja, und ich werde mein erstes Aufenthaltsstipendium in den Naves Matadero wahrnehmen, wo der derzeitige Leiter, Mateo Feijóo, begleitet von reichlich Polemik und viel Ablehnung von Seiten der Theaterszene in Madrid, eine andere Form des Managements einer öffentlichen kreativen Einrichtung in Gang gesetzt hat, im Einklang mit seinem Umfeld und mit der sozialen Integration als Schwerpunkt seiner Arbeit. Ja, aber erneut fehlt es an Mitteln, und es gibt reichlich Bürokratie. Und ich werde dort jeden Morgen für sechs Stunden zum Arbeiten hingegangen sein, mit einem Rucksack voller Bücher und Enthusiasmus. So sagt das bereits Remedios Zafra, Autorin des Essays Der Enthusiasmus: „Die Prekarität ist eine Besonderheit der heutigen Kultur, sie zieht sich durch sie hindurch, sie charakterisiert sie, sie definiert sie.“ Die Prekarität ist der Feind. Die Bildung unsere Hoffnung. Die Bühnenkunst tut uns als Gattung Gutes. Darum ist sie immer noch da, 2.500 Jahre später, immer noch an ihrer unsicheren Zukunft krankend.
Über die Autoren
Autoren
Videos: Javier de Pascual, Schriftsteller, Theaterregisseur Filmemacher und Entrepreneur. Produzent und künstlerischer Leiter von MundiArtistas, familiäres Theaterensemble mit zehnjähriger Bühnengeschichte.
Schlussredaktion: Johannes von Stritzky, Internetredakteur am Goethe-Institut Madrid.